Abstract
Im vorliegenden Aufsatz wurde gezeigt, dass Baltendeutsche das deutungsoffene Konzept der ‘Volksgemeinschaftʼ nutzten, um Änderungen ihrer Situation zu fordern. Das Ideologem der ‘Volksgemeinschaftʼ ist demnach in den eingegliederten Gebieten nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen. Die Akteure riefen dazu auf, rassische Hierarchien und Exklusion strikt zu praktizieren und argumentierten mit den Idealen von Solidarität und Gleichheit gegenüber Angehörigen anderer deutscher Bevölkerungsgruppen. Während mehr als eine Million Polen und Juden bis zum Kriegsende aus dem Warthegau deportiert wurden, waren die deutschen Besatzer nach wie vor auf polnische und jüdische Arbeitskräfte angewiesen. Weil Nichtdeutsche billiger arbeiteten und sich zudem in ihren vormaligen Betrieben auskannten, hatten Baltendeutsche teilweise das Nachsehen. Zahlreiche V-Männer protestierten gegen diesen ökonomischen Pragmatismus, da Baltendeutsche gemäß den rassischen Hierarchien über Nichtdeutschen stünden. Zudem instrumentalisierten Reichsdeutsche Polen, um Ansprüche auf Betriebe geltend zu machen. Die VoMi bezog sich auf Berichte Baltendeutscher, die Reichsdeutschen unterstellten, entgegen rassischer Exklusionskonzepte zu agieren, und forderte, polnische Arbeiter zu deportieren und die Betriebe Baltendeutschen zu übergeben. Außerdem wiesen Baltendeutsche darauf hin, dass trotz Kontaktverbot teilweise Dorfgemeinschaften zwischen Volksdeutschen und Polen fortbestanden. Auf diese Weise versuchten sie, die Vergemeinschaftung der Deutschen im Warthegau nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen.
Entgegen der Erwartungen, im Warthegau nach der Umsiedlung Führungsrollen übernehmen zu können, konkurrierten Baltendeutsche mit anderen Deutschen um soziale Stellung. Sie beklagten gegenüber der VoMi und ihren Mitarbeitern soziale Ungleichheiten und Konflikte unter den Deutschen, die entlang der Gruppenkategorien der Reichsdeutschen, Volksdeutschen und Baltendeutschen verliefen. V-Männer beriefen sich dabei in ihren Berichten auf das Ideal einer homogenen und egalitären ‘Volksgemeinschaftʼ, um zugunsten der Baltendeutschen Veränderungen der Situation vor Ort zu fordern. Als Konsequenz der Schilderungen, die von der VoMi an den SD-Leitabschnitt Posen weitergeleitet wurden, mussten Landräte, Kreislandwirte und Bürgermeister ihre Posten räumen. Dies zeigt, dass für Baltendeutsche ‘Volksgemeinschaftʼ als Argument diente, um die Position der Gruppe gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen zu stärken.
Wie gezeigt wurde, ist auch in den annektierten Gebieten‚ ‘Volksgemeinschaftʼ als Prozess zu verstehen. Angesichts der unterschiedlichen Herkunft der dort lebenden Deutschen trafen in den eingegliederten Gebieten auch verschiedene Auffassungen einer deutschen Gemeinschaft aufeinander. Während zum Beispiel Baltendeutsche ein vergleichsweise idealistisches Bild bemühten, wussten Reichsdeutsche das Konzept pragmatisch zu deuten. Indem die Bevölkerungsgruppen auf Basis der ‘Volksgemeinschaftʼ argumentierten, verhandelten sie gleichzeitig Gemeinschaftspraktiken.
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